Sie entschieden sich trotz Vorzeigenoten für eine Berufslehre

Text: Alec Nedic und Susanna Valentin

Lehre statt Gymnasium Überdurchschnittlich viele Schülerinnen und Schüler aus der Zürichseeregion besuchen das Gymnasium. Es gibt aber schulstarke Jugendliche, die einen direkten Einstieg ins Berufsleben vorziehen.

Überdurchschnittliche Schulnoten, eine hohe Selbstständigkeit und die Bereitschaft, Mehraufwand zu leisten – das sind die Anforderungen, die Gymnasien an ihre künftigen Schülerinnen und Schüler stellen. Im Kanton Zürich erfüllen diese Kriterien viele Jugendliche. So machte letztes Jahr jedes fünfte Kind im Kanton die Matur. Besonders hoch war die Maturitätsquote einmal mehr in der Zürichseeregion. Vor allem am rechten Seeufer lag die Quote in Gemeinden wie Zollikon, Küsnacht oder Herrliberg bei über 45 Prozent. Gleichwohl gibt es Jugendliche, die aufgrund ihrer herausstechenden schulischen Fähigkeiten zwar einen gymnasialen Weg einschlagen könnten, sich aber bewusst dagegen entscheiden. Stattdessen treten sie eine Berufslehre an. «Es handelt sich dabei um eine kleine Gruppe und die jeweiligen Beweggründe sind individuell», sagt Annette Grüter, Leiterin des Berufsinformationszentrums (BIZ) des Bezirks Horgen.

Umfeld beeinflusst Berufswahl

Vielen missfalle die Vorstellung, eine Mittelschule und später noch ein mehrjähriges Studium zu absolvieren. Sie möchten etwas Neues angehen und haben ein Bedürfnis nach praktischem Arbeiten. «Manche haben den Schulalltag auch einfach satt», schildert Grüter ihre Erfahrungen mit einem Schmunzeln. Nicht immer könne das Umfeld dieser schulisch starken Jugendlichen den Wunsch nach einer Berufslehre nachvollziehen. Denn der soziokulturelle Hintergrund sowie das Umfeld hätten bei diesem Entscheid einen signifikanten Einfluss, hält die BIZ-Leiterin fest. Wenn die Eltern beispielsweise im Ausland zur Schule gegangen sind, ist ihnen das Modell des dualen Bildungssystems zumeist fremd. Folglich stünden sie einer Lehre oftmals eher kritisch entgegen. «Das Bildungssystem der Schweiz ermöglicht viele andersartige, doch gleichwertige Ausbildungswege zum Gymnasium», sagt Grüter. Diese Redaktion hat zwei Jugendliche getroffen, die trotz guten Schulnoten auf den gymnasialen Weg verzichten.

Luke Britt (17), Zimmermann

Eine magische Anziehungskraft hatte die kleine Werkstatt im Keller der Familienwohnung von Luke Britt für ihn schon, seit er sich erinnern kann. Bereits als Einjähriger werkelte er an der ersten geschenkten Hobelbank. Im Schulalter sägte er mit der Laubsäge an feinen Holzplatten, bis er schliesslich richtige Möbel herstellte. «Ich wartete die ganze Schulzeit, bis ich endlich nicht mehr herumsitzen muss», sagt der 17-Jährige. Er absolviert heute eine Lehre als Zimmermann. Und das, obwohl ihn sowohl der Primarschullehrer als auch der Oberstufenlehrer im Gymnasium gesehen hätte. «Meine Noten waren durchgehend sehr gut, und trotzdem war für mich klar: Ich möchte in die Praxis.»

«Manchmal habe ich das Gefühl, dass meine Kollegen, die das Gymnasium besuchen, weniger im Leben stehen als ich in der Lehre», sagt der Männedörfler und zuckt mit den Schultern. Das zeige sich zum Beispiel im Umgang mit Geld. «Ich glaube, es erhält erst dann seinen Wert, wenn es selbst erarbeitet ist.» Deshalb bringt er lieber ein Sandwich von zu Hause mit, wenn sich seine Gymikollegen manchmal gleich zwei Döner am Kebabstand holen. Den einen Schultag pro Woche in der Berufsschule schätze er dafür mehr, als es in der Schulzeit der Fall war. «Als Ausgleich zur körperlich anspruchsvollen Arbeit ist es nun richtig schön, einmal einen Tag zu sitzen und zu chillen», bemerkt der angehende Zimmermann lachend. Aktuell fordere ihn die Lehre auf eine Weise, wie er sie schätze. Im überbetrieblichen Kurs arbeite er in einer Gruppe an einem Elementbau mit, die Errichtung des ganzen Gebäudes stehe kurz bevor. «Das ist ziemlich streng, aber auch eine tolle Herausforderung», erzählt Britt. «Ich lerne am meisten, wenn ich Verantwortung übernehmen kann.» Das Holz in die Hände zu nehmen, daraus etwas zu kreieren: Das ist ein Prozess, für den sich der Auszubildende noch immer begeistert. In eineinhalb Jahren ist er ausgebildeter Zimmermann, danach möchte er die einjährige Berufsmatur absolvieren. Ob die Schule ihm als Bewegungsmensch dann leichterfällt, weiss er nicht. Britt nimmt es gelassen. «Vielleicht ist das eine Abwechslung zum Berufsalltag, die ich dann auch wieder zu schätzen weiss.»

Hier, in seinem Werkraum im Keller, bastelte der
Zimmermann-Lehrling Luke Britt
bereits als kleiner Junge.
Foto: Manuela Matt
Hier, in seinem Werkraum im Keller, bastelte der Zimmermann-Lehrling Luke Britt bereits als kleiner Junge. Foto: Manuela Matt

Ilario Morelli (18), Fachkraft Gesundheit

Auch Ilario Morelli hat zurzeit einiges um die Ohren. Der 18-Jährige absolviert sein letztes Ausbildungsjahr als Fachkraft Gesundheit im Spital Männedorf, schreibt nebenbei eine Maturaarbeit und bereitet sich auf seine Abschlussprüfungen vor. Trotzdem wirkt er aufgestellt, wenn er mit seinem ansteckenden Lächeln durch die Geriatrieabteilung schreitet und Patientinnen sowie die Mitarbeitenden der Pflege herzlich grüsst. Anderen Menschen helfen zu dürfen, das treibe ihn an, erzählt Ilario Morelli. «Es fasziniert mich, Krankheiten und den menschlichen Körper zu verstehen.» Auch der Meilemer hatte nach Abschluss der obligatorischen Schulzeit ein einwandfreies Zeugnis vorzuweisen, das Gymnasium wäre ihm offengestanden. «Ich hatte aber schon immer ein Bedürfnis nach Eigenständigkeit und wollte mein eigenes Geld verdienen», erzählt Ilario Morelli.

Trotzdem sträubte er sich lange dagegen, Bewerbungen zu schreiben. «Das Gymi war mein Trumpf, mein Plan B. Er bewirkte, dass ich mich zurücklehnte», erklärt er nach kurzem Zögern. Erst ein Termin bei der Berufsberatung habe Schwung in die Angelegenheit gebracht. Er bewarb sich auf ein Schnupperpraktikum beim Spital Männedorf. Dieses absolvierte er erfolgreich und bekam sogleich das Lehrstellenangebot. «Ich sagte zu, ohne lange zu überlegen.» Die Ausbildung stelle einen starken Kontrast zur Schulzeit dar, sagt er. In der Schule war Morelli nie auf Hilfe angewiesen, erledigte selbst die schwierigsten Hausaufgaben problemlos alleine. Im Spital hingegen wird er bei der Arbeit dauerhaft von einer diplomierten Fachkraft begleitet. Das sei für ihn anfangs befremdlich gewesen. «Mir helfen zu lassen, ist etwas, das ich hier gelernt habe», bemerkt der werdende Gesundheitsfachmann.

Dass er sich gegen das Gymnasium entschieden hat, bereut er bis heute nicht. «Durch die Lehre wurde ich im Umgang mit meinen Mitmenschen sensibler, gleichzeitig aber auch belastbarer.» Und mit seiner Berufsmatur, die er berufsbegleitend absolviert, stehen ihm in der Zukunft alle Wege offen.